Rekordverdächtige Zuwächse bei den Online-Visits und positive Leserresonanzen im Print: In der zweiten Lokalrunde der Lesewert-Pressekonferenz berichteten die Teilnehmer, wie sich bereits nach wenigen Wochen Motivation und Inhalte im Arbeitsalltag grundlegend verändern. Sie alle sind überzeugt: Die Krisenzeit verändert Lokaljournalismus auf Dauer. Das belegen auch die Lesewert-Messdaten.
Chefredakteure von Regionalzeitungen aus ganz Deutschland stehen momentan nicht nur vor der Herausforderung der langfristigen Transformation ihrer Verlagshäuser durch die Digitalisierung. Sie befinden sich in diesen Wochen auch in einem Wandlungsprozess, den niemand erwartet hätte. „Wir werden unglaublich viel mitnehmen”, sagt Andreas Müller, stellvertretender Chefredakteur der Schwäbischen Zeitung, und sprach bei der zweiten Lesewert-Themenkonferenz Lokales allen Teilnehmern aus der Seele.
Reiner Terminjournalismus: Das funktioniert kaum bei den Lesern, wie die Lesewert-Zahlen seit Jahren zeigen. Und doch dominiert er immer noch eine nicht geringe Anzahl deutscher Lokalteile. „Wir merken, dass, weil keine Termine stattfinden, ein großer Ballast von uns abfällt. Und die Leser sind dankbar, sagen sogar: Meine Zeitung ist jetzt dünner, aber ich lese länger”, berichtete Bernd Ernemann, Chefredakteur der Heimatzeitungen beim Münchner Merkur.
Starke Geschichten, die mehr Menschen mitnehmen und über sublokale Partikularthemen hinausgehen, sind das Gebot der Stunde. Das Zauberwort hier: Leserperspektive. Das beobachten die Blattmacher und das zeigen auch unsere Analysen der letzten Wochen. Die Probleme, Herausforderungen und auch alltägliche Bedürfnisse der Menschen in den Gemeinden und Städten passgenau aufzugreifen, ist in der Corona-Krise wichtiger denn je.
Ein gut erprobtes Mittel aus vermeintlich vergangenen Tagen: Das Lesertelefon. “Unsere Leserfragen sind fast immer das bestgelesene Stück des Tages”, so Kai Gohlke, Chefredakteur des Neuen Tags in Weiden. Ob per Mail, Social Media oder am klassischen Hörer: Was die Menschen bewegt, sollte die Redaktionen bewegen.
Dies gilt sowohl für Themen, die mit dem Virus in Zusammenhang stehen als auch mit Themen, die dies nicht tun. Unsere Lesewerte zeigen deutlich, dass eine gute Mischung im Blatt entscheidet. Die Kunst ist, das Informationsbedürfnis der Menschen nach den aktuellen Entwicklungen befriedigen, aus der Masse an Corona-Zahlen und -News das herauszufiltern, was die Menschen in der Region am meisten interessiert, und gleichzeitig hierbei andere wichtige Themen nicht aus dem Auge verlieren. Hierzu zählen unter anderem Sicherheit und Kriminalität, Ent- und Versorgung, Mobilität und Bildung.
Das ist zum Beispiel die Entwicklung der Neuinfektionen im Landkreis, aber auch heruntergebrochen auf jede einzelne Gemeinde, weil diese Zahlen Aufschluss darüber geben, ob die strengen Ausgangsbeschränkungen die Infektionskurve wirklich abzuflachen vermögen — und letztlich die wichtigste Kennzahl für deren Aufhebung sind. „Die Leser kommen auf uns zu und bitten um diese Zahlen”, bestätigen Redakteure des Oberbayerischen Volksblatts in Rosenheim. Doch die Runde machte auch die Erfahrung, dass die Stadt- und Kreisverwaltungen nicht immer konkret und kooperationsbereit seien. Es lohnt sich, hartnäckig und am Ball zu bleiben — den Lesern zuliebe.
Die richtige Themenauswahl rückt immer mehr in den Fokus der Blattmacher. Der Grund: Viele Zeitungen haben ihren Umfang gekürzt, gleichzeitig sprudeln innerhalb der Teams innovative kreative Ideen, aus anfänglichen Sorgen und gefühlter Hilflosigkeit wurde der Mut zu neuen Formaten und Perspektiven. Wem Ratgeberthemen etwa bisher zu boulevardesk erschienen, der denkt um. Denn nur weil Corona mehr Leser ins Blatt zieht, bedeutet das nicht, dass alle Texte besser gelesen werden. Ganz im Gegenteil: Unsere Analysen zeigen, dass die Unterschiede im Leserinteresse teils noch sichtbarer werden. Und dass insbesondere jene Artikel Anklang finden, die einen persönlichen Mehrwert für die Leser bieten und ihnen im Alltag helfen.
Das ist eine Herausforderung. Aber eine, die Freude bringt. Denn was gibt es für Journalisten Schöneres, als den Menschen vor Ort die Informationen und Geschichten zu liefern, die für diese wirklich Bedeutung haben. Und nicht jene, die Zeitungsseiten füllen, dann aber überblättert werden. „Ich habe meine Mannschaft noch nie so motiviert gesehen”, sagt Carsten Heil, stellvertretender Chefredakteur der Neuen Westfälischen.
WAS KOMMT GUT AN BEI DEN LESERN? ERFOLGREICHE FORMATE ZUM NACHMACHEN:
Lesertelefon: Die Rheinpfalz in Speyer hat Erfolg mit der Rubrik „Was Leser ärgert“, die in Zeiten von Corona richtig Schwung bekommt. Ebenso gut funktionieren Lesertelefone bei anderen Lokalausgaben, denn die Leser haben unwahrscheinlich viele Fragen zurzeit.
Corona-Zahlen: Die Lokalzeitungen beim Münchner Merkur brechen die Corona-Zahlen bis auf Gemeinde-Ebene herunter und geben regelmäßig eine grafische Übersicht. Das ist bei den Lesern sehr gefragt, gelingt vielen anderen Regionalzeitungen so aber nicht, weil die Behörden mauern. Muss man aber nicht hinnehmen, sagt Chefredakteur Bernd Ernemann.
Selbstversuche und Reportagen: Reportagen mit Corona-Bezug stehen zurzeit hoch im Kurs bei den Lesern: Reporter sind mit Mundschutz in der S-Bahn unterwegs, als Essenslieferant, streifen bei schönem Wetter durch den Stadtpark oder abends durchs leere Kneipenviertel und schreiben auf, was sie erleben.
Wir über uns: Ob Homeoffice-Tagebuch des Lokalreporters (Sächsische Zeitung Pirna), die gestrandete Reporterin zwischen Job und Kinderbetreuung (Rheinpfalz) oder eine ganze Seite darüber, wie das Zeitungmachen in Zeiten von Corona funktioniert (Schorndorfer Nachrichten des Zeitungsverlags Waiblingen) — auch das lieben die Leser, wenn es gut und witzig gemacht ist.
Gute Nachrichten: Man sagt ja immer, dass Good News keine News sind. Das stimmt zurzeit nicht. Wir beobachten, dass Leser gezielt nach den guten Nachrichten suchen, die sie sonst gern übersehen. „Feuerwehr: In Isolation mehr als 300 Masken gebastelt“ (Rheinpfalz), „Vier weitere Infizierte als geheilt entlassen“ (Rheinpfalz) oder „Verkehrsbetriebe trotzen Virus uneingeschränkt“ (Sächsische Zeitung) sind Beispiele für drei kleine Lokalnachrichten, die zu den bestgelesenen Artikeln der jeweiligen Ausgaben gehörten.
Mutmacher: „Corona-Helden“ heißt eine Serie der Sächsischen Zeitung, in der fast täglich Menschen vorgestellt werden, die das Land am Laufen halten — von der Krankenschwester über die Verkäuferin bis zum LKW-Fahrer. Bei der Rheinpfalz heißt die Serie „Mutmacher“. Die ausführlichen Porträts bekommen jeweils sehr hohe Leser-Aufmerksamkeit.
Haus und Garten: Ein Themengebiet, das für die Leser sehr an Bedeutung gewonnen hat, ist der eigene Garten. Kein Wunder, denn der Aktionsradius draußen ist ja beschränkt. Alle Geschichten, die mit Baumärkten und deren Öffnungszeiten, mit Grünschnitt-Entsorgung, Gärtnereien und Blumenverkauf zusammenhängen, sind Selbstläufer bei den Lesern. Ebenso funktionieren Gartentipps und Naturbeobachtungen zurzeit ganz gut.
Ausflüge und Bewegung: Artikel über Bewegung im Freien haben extrem an Leserinteresse gewonnen seit Beginn der corona-bedingten Einschränkungen. Die Fragen der Leser: Wie weit darf ich mich von zu Hause wegbewegen? Was ist im öffentlichen Raum erlaubt, was verboten? Welche Ausflugsziele erreiche ich noch, sind diese vielleicht gesperrt? Wie verhalte ich mich richtig?
Bilder für Oma und Opa: Weil die Kinder ihre Großeltern nicht sehen dürfen, druckt das Luxemburger Wort jeden Tag Kinderzeichnungen mit Grüßen an Oma und Opa ab. Eine klasse Idee vor Ostern.
Landwirtschaft: Vor allem Hilfe für Landwirte und Selbsterfahrungsreportagen als Helfer werden sehr gut gelesen.
Historie: Das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren geht als Thema zurzeit ein bisschen unter. Die Texte im Lokalen zu den letzten Kriegstagen haben aber sehr gute Lesewerte. Auch regionalgeschichtliche Stücke zu Seuchen funktionieren.